Wem gehört die Stadt?

DVR-Kolloquium in Bonn

12. Dezember 2019 - Der Straßenverkehr in deutschen Städten wird dichter, doch der dafür zur Verfügung stehende Raum nicht. Angesichts dieser Entwicklung wurde auf dem DVR-Kolloquium in Bonn darüber diskutiert, wie es gelingen kann, den Verkehrsraum neu aufzuteilen und Alternativen zum Auto wie das Fahrrad oder auch den Fußverkehr zu fördern. Spannende Vorträge und innovative Lösungen wurden auf dem, von Michael Adler (Agentur tippingpoints) moderierten, Kolloquium vorgestellt. Das Kolloquium wurde von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und dem ADAC unterstützt. Ideelle Partner waren der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD).

Die Stadt gehört den Menschen

Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe, erklärte DVR-Präsident Prof. Dr. Walter Eichendorf in seiner Begrüßung. Angesichts des immer komplizierter werdenden Verkehrs, neuer Fahrzeuge wie z.B. E-Scooter, müsse die Frage diskutiert werden, wie alle Menschen noch sicher ankommen können. Aktuell beobachte man besonders in den Städten einen Kampf um den enger werdenden Platz: Autos stünden im Stau, Pkw auf Radwegen, Transporter auf Gehwegen und zwischendrin flitzten E-Scooter und Roller umher. Diese Entwicklung bringe es mit sich, dass der Straßenraum neu aufgeteilt werden müsse, so der Präsident. Aufgabe des DVR und all seiner Mitglieder sei es, konkrete Ideen zu entwickeln, wie dies gelingen könne. 

Der Mobilitätswandel ist unausweichlich

Gerhard Hillebrand, Vize-Präsident Verkehr beim ADAC und Mitglied im Vorstand des DVR betonte in seinem Grußwort, dass der Mobilitätswandel gerecht und angemessen vollzogen werden müsse, gerade mit Blick auf die Rolle des privaten Autos. Wer dem Auto etwas wegnehme, müsse alternative und bezahlbare Angebote machen. Gleichzeitig mahnte er, dass schmale Radfahrstreifen keine Akzeptanz fänden. Viele Radelnde würden dann auf den Gehweg ausweichen. All diese Aspekte müssten bei der Frage „Wem gehört die Stadt?“ berücksichtigt werden.

Mobilität neu denken

„Die Probleme sind bekannt, die Lösungen lassen seit Jahrzehnten auf sich warten“, sagte Prof. Dr.-Ing. Jürgen Follmann von der Hochschule Darmstadt in seinem Vortrag. Er forderte alle auf, das eigene Verkehrsverhalten zu überdenken. „Wenn man etwas verändern will, muss man nicht immer nur Auto fahren“, so der Professor. Gleichzeitig betonte er, dass überall eine sichere Infrastruktur geschaffen werden müsse, die Alternativen zum Pkw erlaube. Als Vorbild hierfür nannte er Darmstadt. Die Stadt verfolge einen Masterplan, der u.a. vorsehe, große Verkehrsachsen zu verändern, Fahrbahnspuren für den Radverkehr und ÖPNV umzuwidmen. Alle müssten mutiger werden und mit Modellversuchen experimentieren, diese fördern, um so neue Lösungen für eine radfreundliche Infrastruktur zu entwickeln. 

Neue Wege für eine erfolgreiche Verkehrswende

Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende des Verkehrsclub Deutschland (VCD), machte konkrete Vorschläge, wie die Verkehrswende gelingen könne. Sie forderte u.a. den Ausbau der Fuß- und Radwege in Städten, eine Verdopplung des ÖPNV und mehr Kostengerechtigkeit im Verkehr. Zudem müsse „Falschparken“ konsequent sanktioniert, die Gebühren für Parken und Anwohnerparken angehoben und die Geschwindigkeit in der Stadt stärker begrenzt werden. Die gesamte Gesellschaft müsse aktiv werden. Erst dann erkenne die Politik, dass es ein echtes Problem gebe. 

München auf dem Weg der Vision Zero

Dr. Martin Schreiner, Stadt München, zeigte am Beispiel der Stadt München, wie die Verkehrswende und Verkehrssicherheit gelingen können. 2012 erstellte die Stadt ein Verkehrssicherheitskonzept basieren auf der Vision Zero, investierte in Personal in der Verwaltung und neue Software mit deren Hilfe Unfalldaten analysiert und Gefahrenstellen identifiziert werden konnten. Bei dem folgenden Umbaumaßnahmen seien Sicherheitsprüfungen durchgeführt, die Arbeit der Unfallkommissionen gestärkt worden. Zudem habe man sich dem Thema Schulwegsicherheit gewidmet und auch die Verkehrsüberwachung ausgeweitet. Seitdem habe die Unfallschwere abgenommen. 

Um die Verkehrssicherheit und Attraktivität für den Radverkehr zur erhöhen habe man zudem u.a. Gefahrenstellen entschärft und Kreuzungen umgebaut. Schreiners Fazit: Erfolgreiche Verkehrssicherheitsarbeit benötigt engagierte Masterminds in der Verwaltung und in den Stakeholdernetzwerken, politische Unterstützung, gute Berater mit modernem Ansatz, Experimentierfreude, gutes Monitoring, harte Evaluation, nationale und internationale Forschungskooperationen.

Konflikte lösen und Unfälle verhindern: Fuß- und Radverkehr in der Stadt

Jörg Ortlepp von der Unfallforschung der Versicherer (UDV) skizzierte zunächst das Unfallrisiko von zu Fuß Gehenden und Rad Fahrenden und schilderte Unfallsituationen im Rad- und Fußverkehr. Besonders häufig sei das Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer Ursache für Unfälle: Auto Fahrende vergäßen den Schulterblick, Radfahrerinnen und Radfahrer führen auf falschen Flächen. Falschparken und Rotlichtverstöße seien weitere Unfallursachen. Mehr Rücksicht aufeinander nehmen sei daher von allen gefordert. 

Um Unfälle zu vermeiden müsse aber dringend die Infrastruktur verbessert und an die geltenden Regelwerke angepasst werden, vor allem hinsichtlich der Sichtbeziehungen. Hier gebe es z.B. bei Kreuzungen und Einmündungen klare Vorgaben, wie weit man den Gegenverkehr sehen können müsse. Um dies einzuhalten müssen häufig Parkmöglichkeiten entfernt oder auch die Geschwindigkeit des fließenden Verkehrs gesenkt werden. 

Flächen müssten neu aufgeteilt werden, so dass auch Rad Fahrende, Gehende und Menschen mit Einschränkungen sicher ankommen könnten. Eine gemeinsame Führung von Rad- und Fußverkehr lehnte er ab und forderte stattdessen eine selbsterklärende Verkehrsführung.

Sicher ankommen zu Fuß: Das Beispiel Leipzig

Warum sollen Städte den Fußverkehr fördern und wie kann das gelingen? Das erörterte der Fußverkehrsverantwortliche der Stadt Leipzig Friedemann Goerl. Sicher zu Fuß ankommen erhöhe die Qualität des städtischen Lebens, fördere die soziale Sicherheit und Gesundheit. Wer seine Freizeitaktivitäten zu Fuß erreichen kann, sei ökologisch unterwegs. Um die Vorhaben schnell umsetzen zu können, müsse man bei den Planungen strategisch vorgehen. Bürgerbeteiligungsverfahren seien hilfreich, ebenso Rundgänge zu Fuß oder auch Bürgersprechstunden. 

Leipzig entwickle das bestehende Fußverkehrsnetz mit Hilfe eines Fußverkehrsentwicklungsplans permanent weiter. Bestandteile des Plans seien: Zebrastreifenprogramme, ein Stadtplatzprogramm, Gehwegsanierungsprogramm, Lückenschlussprogramm und weitere. Zudem würden Modell- und Pilotprojekte durchgeführt. 

Sinnvoll eingesetzt werden könne ein solcher Plan jedoch nur mit einer Vision, wie die Zukunft von Flächen aussehen könne, so der Experte aus Leipzig.

Mehr Platz fürs Rad: Gestaltungsprinzipien für sicheren Radverkehr

Der Geschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Burkhard Stork erklärte, viele Wege könne man auch ohne Auto zurücklegen, sogar auf dem Land. Damit das möglich würde, sei mehr Platz für den Radverkehr notwendig. Da das Unfallrisiko auf dem Rad stark altersabhängig sei, müsse zudem müsse die Infrastruktur sicherer gestaltet werden. Wie es gelingen könne, zeigten die Niederlanden. Dort sei der Anteil der Senioren an den Verunfallten deutlich geringer als in Deutschland. Die Politik habe mittlerweile erkannt, dass mehr Investitionen in den Bau und Umbau von Radwegen fließen müsse. Diese Baumaßnahmen dauerten jedoch sehr lange. Aus diesem Grund fordere der ADFC Fahrstreifen in geschützter Ausführung, wie sie in Berlin bereits realisiert würden. Nichts tun sei keine Lösung. Deshalb begrüßte er die Bekenntnis zur Förderung des Radverkehrs, die Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer in der letzten Zeit mehrfach geäußert habe. Weiterhin müssten international erprobte Lösungen schnell umgesetzt werden; gefährliche Stellen müssten sofort entschärft werden. Das nötige Geld sei vorhanden. Entscheidend sei jetzt die Maßnahmen auch schnell umzusetzen.

Sicher auf dem Sattel: Fahrradmobilität in Bozen

Wie Bozen in Südtirol zu einer echten Fahrradstadt wurde, erläuterte Irene Senfter vom Ökoinstitut Südtirol. Das Herz der Radinfrastruktur sei die „Radautobahn“ durch die Stadt. Außerdem sei in Bozen ein Netz von Radverkehrsanlagen mit einer Länge von 53 Kilometern gebaut worden. Neben zahlreichen weiteren infrastrukturellen Gestaltungselementen würden eindeutige Beschilderungen, eine intuitive Fahrbahnführung sowie „intelligente“ Ampeln Rad Fahrende beim sicheren Queren von Kreuzungen helfen. Abbremselemente für alle Verkehrsteilnehmer verlangsamten das Tempo. Leitsysteme und Beschilderungen sorgen für leichte Orientierung. Um mehr Aufmerksamkeit für das Thema Verkehrssicherheit zu erreichen werden regelmäßig Kampagnen mit der Polizei durchgeführt. Außerdem kontrolliert diese als „Fahrradstreife“ den Straßenverkehr. Bozen habe schon viel erreicht. Die Stadt wolle sich aber weiterentwickeln und noch radfreundlicher werden.

Schlusswort des DVR-Präsidenten

DVR-Präsident Prof. Dr. Walter Eichendorf resümierte in seinem Schlusswort vor den rund 150 Teilnehmenden „Es geht doch!“ Die vielen positiven Beispiele von Städten, die den Rad- und Fußverkehr förderten, machten Hoffnung. Die politische Unterstützung sei da, das Geld auch. An die Anwesenden gerichtet appellierte er: „Sie müssen jetzt aktiv werden, die Politiker, den Bürgermeister ansprechen und ‚Remmidemmi‘ machen.“ Es gäbe keinen Grund nichts zu tun.